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Der Sendermann
Die ersten, damals noch unsicher hingekritzelten Inschriften des Sendermanns
tauchten in den Wintermonaten 1973/74 in Telefonzellen der Bezirke Tempelhof
und Schöneberg auf. Bis zum Jahr 1976 überzog er Westberlin mit
einer Flut von Wandbeschriftungen und Aktionen, die innerhalb der drei Jahre
stadtbekannt wurden, obwohl er selbst weitgehend anonym blieb. Seit etwa
einem Jahr reduziert er seine Aktivitäten auf das Tragen grosser Transparente
und gelegentliche Megaphonaufrufe, weil - wie er sagt - SIE ihm die
Kraft nicht mehr lassen.
Die Botschaften des Sendermanns sind zwar Produkte seines Wahns, aber
das erklärt nicht viel. Denn in dieser Stadt gibt es Tausende von
Paranoikern und keiner sonst findet einen Weg, seine Angst zu artikulieren
und in den Aufruf zum gemeinsamen Widerstand münden zu lassen. Seine
Arbeit hat den Charakter einer Werbekampagne, unterscheidet sich davon
aber auch, weil hier nicht für ein kaufbares Produkt geworben wird,
sondern für eine Idee, die sich in den Köpfen der Leute festsetzen
soll. Seine Sprüche zeigen den Ansatz einer Erkenntnis, die weiterzuentwickeln
dem Sendermann aber nicht möglich war und die sich ins Wahnhafte
entzog: Nämlich der Ahnung über den weitgehenden Verlust von
Privatheit und die Beeinflussung durch eine alles infiltrierende, anonyme
Maschinerie.
Unser spezielles Interesse gilt den Techniken, die er anwendet, um seine
Botschaften mögIichst vielen Menschen zu bringen. Denn Techniken
sind übertragbar. Menschen mit anderen Anliegen können sie modifizieren
und sich ihrer bedienen.
Der Sendermann erkennt die Ohnmacht des Armen nicht an. Jedermann weiss:
Macht ist mit Geld verbunden. Was aber tut man, wenn man nicht über
die Zeitung verfügen kann, das Fernsehen und die Radiostation? Seit
1973 hat der Sendermann ein umfangreiches Repertoire an Medien benutzt,
die alle den wichtigen Vorteil haben, dass sie wenig kosten:
• Hauswurfsendungen die bei ausgewähIten Adressaten in den
• Briefkasten geworfen wurden
• Plakate und Flugblätter
• Megaphon
• Transparente, die er durch belebte Strassen trägt
• Beschriftungen in Telefonzellen, Transformatorenhäuschen,
auf grossflächigen Werbeplakaten und teilweise riesige Wandbeschriftungen
Der Sendermann arbeitet präzise, kontinuierlich und mit einem langfristigen
Konzept. Er sucht die passenden Orte für seine Veröffentlichungen
aus. Er erarbeitet sich einen Berliner Stadtbezirk nach dem anderen. Er
bezieht aktuelles politisches Vokabular gerade soweit in seine Slogans
ein, dass deren spontane Wiedererkennung nie gefährdet ist, andererseits
aber durch die Variierung und Erweiterung seines Grundthemas und seiner
Techniken ständig frisches Interesse seiner Leser erzeugt wird.
Der Sendermann verpackt seine Meinung klug. Eine Aussage, die sich im
Kopf des Adressaten festsetzen soll, muss seine Phantasie und seinen Geist
stimulieren. Die Bedeutung seiner Aussagen ist nicht im schnellen Zugriff
erschlossen und verschlissen. Sie sind mehrdeutig und darum machen sie
uns neugierig.
(aus: Volksfoto – Zeitung für Fotografie, Nr. 4, 1978, von
Andreas Seltzer)
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