Presseartikel aus DIE WELT, Fr, 31. Dezember 2004
"Ich bin ein Baumeister"
Philip Wiegard arbeitet als Bildhauer am Übergang vom Objekt zum Bild
von Corinna Daniels
Es sieht aus wie eine Bar und ist doch keine. Wer sich hinsetzt, rutscht
runter. Dabei hatte man von fern noch gedacht, es sei möglich, an diesem
Quetschtresen auf einem der Hocker Platz zu nehmen. Nix da. Alles Illusion.
Genau das ist es, was der Künstler Philip Wiegard zeigen möchte: Wir nehmen
die Wirklichkeit ganz schön verkürzt wahr.
Die Illusion von der Zentralperspektive führt er dem Besucher gerne ausführlich
vor Augen. Es komme immer auf den Blickwinkel an, wie wir die Umgebung
sehen und das meint der junge Bildhauer gar nicht im übertragenen Sinne:
"Die Zentralperspektive ist eine Konstruktion, um die menschliche Wahrnehmung
zu simulieren."
An seiner "Bar" hat er dem entsprechend gesägt und gehämmert, um sie neu
zusammenzuschmieden. Die Hocker sind jetzt keine richtigen Sitzgelegenheiten
mehr. Sie wurden bearbeitet und die Hälfte fehlt. So stellt sich die Frage,
ob es sich eigentlich noch um Stühle bzw. Gebrauchsgegenstände handelt
oder nur um das Abbild davon?
Genau diese Schnittstelle interessiert Wiegard, der Übergang vom Objekt
zum Abbild und die völlig unterschiedlichen Wirkungen der perspektivischen
Verkürzung in beiden, was die Illusion und deren Auflösung betrifft. Man
kann seine "Bar" aber auch schlicht als originelle Einlassung zur Kunst
sehen, die ja Wirklichkeit immer nur vortäuschen kann. Sogar ein Vorbild
gibt's dafür. Die gotische Skulptur als Inspirationsquelle. Tilman Riemenschneiders
Marienaltar in Rothenburg ob der Tauber stand Pate. Dort ist eine Abendmahlszene
dargestellt und alle sitzen um einen Tisch. Das Personal hat Wiegard weggelassen,
der Tresen blieb übrig. Zusammen mit einigen Pop-ups (Aufstell-Klappbildern)
aus Papier und Pappe von Reichstag und Bodemuseum war die "Bar" des UdK-Abgängers
im Sommer in der Galerie Michael Schultz zu sehen. Als einer von drei
Ausgezeichneten unter rund 80 Meisterschülern des Jahres 2003 erhielt
Wiegard den Meisterschülerpreis des Präsidenten der UdK mit dieser Ausstellungsteilnahme.
inen kleinen Verkaufsschlager hat er auch schon kreiert - sein Pop-up
"Treptow". Die ersten 15 der 50er Auflage sind weg. Das Motiv dreier ausrangierter
Kinosessel entdeckte der Künstler auf dem Trödelmarkt am Flutgraben. Aus
den Fotos davon machte er die Faltarbeit mit räumlicher Wirkung. Sie sieht
aus wie ein Kinderspielzeug.
Im Augenblick bereitet der in Schwetzingen geborene und in Regensburg
aufgewachsene Sohn zweier Wissenschaftler die nächste Schau vor. Bei Laura
Mars will der 27-Jährige, der schon als Kind zu den manischen Bastlern
gehörte und sich selbst augenzwinkernd auch als solchen bezeichnet, Einbauten
schaffen, die den Galerieraum verändern.
So wie er schon einmal in New York während eines Stipendienaufenthalts
sein Studio durch Pappkartons verwandelte und ein Hochhäusern ähnliches
Mobiliar in Tradition von Schwitters Merzbau schuf. Nein, ein Architekt
sei an ihm nicht verloren gegangen: "Ich bin ein Baumeister", findet Wiegard,
der am liebsten Bilder baut. Kunst und Handwerk gehören schließlich doch
irgendwie zusammen.
Im Atelier an der Jannowitzbrücke arbeitet er Seit' an Seit' mit Produktdesignern.
Für den jungen Künstler eine spannende Begegnung: Wo liegt die Abgrenzung
bzw. der Unterschied zwischen Design und Kunst?
Diese Frage stellt er sich und seine Auseinandersetzung spiegelt sich
in jüngsten Werken wie "Bambi", einer poppigen Plastik aus Bauschaum,
die mit Sprühschablonen bemalt wurde, wider. Sie sieht aus wie ein Zwischending,
das auch industriell gefertigt sein könnte. Die Materialien sind ihm dabei
egal. Wiegard, der beim Stahlbildhauer David Evison gelernt hat, kann
sich mit allem anfreunden. Seine neueste Arbeit, "Kill the Great Raven",
das schwarze Wandemblem eines Raben, ist aus Kunststoff entstanden. Die
Gipsform steht noch in seinem Atelier.
Eine ganze Werkserie von Tieren, Menschen und Stilleben aus Polystyrol
sollen folgen - mit Dirk Bach als Protagonisten und Markenturnschuhen
von Adidas. Eine schöne, neue Warenwelt der Kunst.
Die Aufstellklappbilder aus Papier und Pappe kosten zwischen 100 und 1800
Euro je nach Auflage und Aufwand. Den Preis für die Installation mit diversen
Objekten erfährt man auf Anfrage.
Laura Mars Grp., Sorauerstr. 3, Kreuzberg; vom 28. Januar an. Di-Fr 12-19
Uhr.
© Die Welt, 2004
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